Die Schlacht um Verdun

Forschung | Der Erste Weltkrieg in der Geschichtsschreibung


Der Erste Weltkrieg in der Geschichtsschreibung
von Alfons Philippi

Kriegsgeschichte oder Militärgeschichte1? Für Laien ist das ein- und dasselbe, aber wir stellen hier erhebliche Unterschiede fest, die man in aller gebotenen Kürze so fassen könnte:

Kriegsgeschichte befasst sich in der Regel mit der detaillierten Darstellung und Bewertung von Feldzügen und Schlachten. Sie behandelt taktische Vorgänge und strategische Fragen, untersucht den Einsatz diverser Waffensysteme auf dem Gefechtsfeld, technische Innovationen und ihre Anwendung, logistische Maßnahmen, Kommunikationssysteme, Strukturierung und Führung einzelner Truppenteile bis hin zu individuellen Leistungen, um nur einige Untersuchungsgegenstände zu benennen.

Demgegenüber ist Militärgeschichte viel umfassender, da sie den Gesamtkontext politischer, gesellschaftlicher, ökonomischer und kulturgeschichtlicher Kausalitäten und Wechselwirkungen zu erfassen sucht. Dennoch war die Militärgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg im Sog der Kriegsgeschichte in Verruf geraten – die Tatsache, dass lange Zeit nur ein einziger Lehrstuhl für Militärgeschichte existierte (Prof. Werner Hahlweg in Münster und später Prof. Gerd Krumeich) belegt das Nischendasein der Militärgeschichte in der historischen Wissenschaft. Sie wurde in einer politisierten Atmosphäre unter einen regelrechten Dauerverdacht des Militarismus und Revanchismus gestellt, und erst in der jüngeren Vergangenheit wurde mit Prof. Sönke Neitzel einem Militärhistoriker Gleichrangigkeit und mediale Präsenz gewährt. Mit Beginn des Ukraine-Krieges hatten mit einem Male sogar wieder pensionierte Generäle Konjunktur in den Medien.

Der Geschichtswissenschaft wurde im 20. Jahrhundert eine hochpolitische Funktion zugewiesen: Sie schuf mit ihren Forschungen den wissenschaftlichen Unterbau für weltanschauliche Positionen, die gesellschaftliches Bewusstsein und politisches25 Handeln prägten. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und dem Friedensvertrag von Versailles fiel der deutschen Geschichtsschreibung natürlich die vaterländische Pflicht zu, den wissenschaftlichen Beweis für die Unrechtmäßigkeit des „Gewaltfriedens“ zu führen und die „Kriegsschuldlüge“ zu widerlegen, eine Position, die alle Weimarer Parteien vertraten und die auch im Dritten Reich von einer gleichgeschalteten Geschichtsschreibung eingenommen und um spezifisch nationalsozialistische Aspekte erweitert wurde: Der Erste Weltkrieg wurde umgedeutet zum Ergebnis einer jüdischen Weltverschwörung.

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Betrachtung und Bewertung des Ersten Weltkrieges zunächst noch geprägt von einer eher bürgerlich-konservativ orientierten Historikergeneration: Gerhard Ritter, Hans Herzfeld und Karl Diedrich Erdmann, um nur einige zu nennen, vertraten eine apologetische Richtung, bis 1961 mit Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht“ eine heftige Debatte aufflammte: Fischer vertrat die These, dass das Deutsche Reich vor 1914 eine aggressive imperialistische Weltmachtpolitik betrieb, mit der es „einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges“ trug. In der Folgezeit radikalisierte Fischer sich sogar bis hin zu der These von der deutschen Alleinschuld (1969: „Krieg der Illusionen“).

Fischers Thesen spalteten die Forschung in ein konservatives Lager, welches das Kaiserreich eher positiv beurteilte und den Versailler Frieden als ein Unrecht, das den Aufstieg des Nationalsozialismus wesentlich begünstigte, und in ein progressives, linksliberales Lager, das die deutsche Hauptverantwortung hervorhob und die in der Kaiserzeit wurzelnden obrigkeitsstaatlichen Traditionen verdammte. In den 60er Jahren hatte dieser Historikerstreit damit eine brisante Wirkung in der Diskussion um den deutschen Nationalstaat und gesellschaftliche Erneuerungsprozesse. Das Verschweigen und Verdrängen des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte hatte nun ein Ende und es begann eine fruchtbare Phase der Aufarbeitung und wissenschaftlichen Erforschung der deutschen Diktatur. Die Politik machte sich die Position zu eigen, dass Nationalsozialismus und Holocaust einen einzigartigen, ungeheuerlichen Zivilisationsbruch bedeuteten. Dem kann nicht widersprochen werden. Problematisch waren und sind allerdings zwei Folgewirkungen bis in die Gegenwart:

Zum einen leiten einflussreiche bundesdeutsche Eliten aus der Prämisse, Deutschland habe seine Lektion gelernt und Lehren aus der Geschichte gezogen, eine Berechtigung ab, moralisierend und belehrend aufzutreten – ein geradezu arroganter moralischer Imperialismus durchzog viele Äußerungen deutsche Politiker, die gerne das internationale Geschehen von der Außenlinie kommentierten, aber selbst keine Neigung zeigten, etwa selbst mit Militärmacht in abscheuliche Konflikte einzugreifen. Über Jahrzehnte hinweg verfestigte sich die Haltung, dass man sich gerne von den Verbündeten verteidigen lassen und sich aufs Geschäftemachen konzentrieren sollte. Damit schlich sich eine Scheinheiligkeit in unsere Gesellschaft ein, die mit für das jähe Erwachen am 24. Februar 2022 verantwortlich zu machen ist.

Eng verwandt mit dieser heuchlerischen Grundhaltung war und ist ein moralisierender Pseudo-Pazifismus, der dazu führte, dass man bestenfalls ein „freundliches Desinteresse“ gegenüber der Bundeswehr an den Tag legte oder sogar die Soldaten, die im Konfliktfall Freiheit und Demokratie mit ihrem Leben verteidigen, als Militaristen und potentielle Rechtsradikale unter Dauerverdacht stellte und ausgrenzte.

Die zweite Folgewirkung von Nationalsozialismus und Holocaust betrifft den Blick vor allem auf die eigene Geschichte. Die naheliegende Frage nach den Ursachen der deutschen Katastrophe nahm natürlich das Wilhelminische Deutschland ins Visier, und der historische Vergleich von nationalsozialistischer Diktatur und Kaiserreich legte den Schluss nahe, dass letzteres der Diktatur den Weg bereitet habe, denn zu offenkundig waren die Parallelen: Nationalismus und Militarismus, Hegemoniestreben und Weltmacht-Phantasien, Obrigkeitsstaat und Führerprinzip, Kolonialimperialismus und Lebensraumtheorie, um nur einige zu nennen.

Geflissentlich übersehen wurde, dass das Kaiserreich in vielerlei Bereichen durchaus fortschrittlich war oder dass führende Weimarer Politiker wie Gustav Stresemannn durchaus revisionistische Ziele verfolgten und sich mit der Rolle, die der Versailler Vertrag Deutschland zugewiesen hatte, niemals abfinden wollten. Die Geschichtsschreibung betrieb wie die Politik eine Westorientierung, und ähnlich wie angelsächsische und französische Historiker suchte man die Wurzel allen Übels in der Singularität der deutschen Geschichte – schon Martin Luther war Judenhasser, womit er für viele Historiker an der Wiege des Nationalsozialismus stand und prägend war für die Haltung vieler Deutscher.

Die deutsche Gesellschaft tat sich schwer mit der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit – teils wurde diese relativiert oder verdrängt (die Äußerung eines prominenten Politikers vom rechten Rand, die Zeit des Nationalsozialismus sei nur ein „Fliegenschiss“ auf tausend Jahren (!) erfolgreicher deutscher Geschichte, belegt die Fortdauer dieser Geschichtsklitterung bis in die jüngste Vergangenheit), teils wurde eine mitunter obsessive Selbstgeißelung betrieben. Bis in unsere Gegenwart hinein prallen weltanschauliche Positionen unerbittlich aufeinander und es gelingt kein breiter gesellschaftlicher Konsens, wie wir unsere eigene Geschichte bewerten und welche Lehren wir aus ihr ziehen wollen.

Diese Neigung zu Ignoranz und Verleugnung einerseits und Selbstbespiegelung, Nabelschau und historischem Flagellantentum andererseits führte auch dazu, dass bei der wissenschaftlichen Erforschung der Ursachen des Ersten Weltkrieges die Kontrahenten des Deutschen Kaiserreiches nicht ausreichend gewürdigt wurden; statt dessen wurde deren Handeln ausgeblendet und stillschweigend unterstellt, dass Deutschland der eigentliche Agens der europäischen Geschichte vor 1914 war, damit ein zentrales Argument der Alliierten in der Kriegsschulddebatte stillschweigend als Faktum voraussetzend.

Als Sir Christopher Clark im Jahr 2013 sein epochales Werk „Die Schlafwandler“ vorlegte, in dem er ein wesentlich differenzierteres Bild entwarf und auch die treibenden Kräfte auf alliierter Seite analysierte, schlug ihm vielfache Kritik entgegen: Er wolle Deutschland von seiner historischen Schuld reinwaschen, sein Werk sei apologetisch.

Ähnlich wie Clark argumentierte 2021 der deutsche Historiker Rainer F. Schmidt in seiner brilliant geschriebenen „Kaiserdämmerung“. Umgehend gab es geradezu reflexhaft Kontra: „Rezensent Gerd Krumeich hätte sich von Rainer F. Schmidt ein Buch über die internationalen Beziehungen zwischen 1890 und 1919 gewünscht, das durchaus einen konservativen Standpunkt vertritt, aber doch ausgewogener auf die deutsch-französischen Beziehungen eingeht und die Forschungsliteratur stärker einbezieht. Schmidts Darstellung leidet laut Rezensent unter karger quellenmäßiger Ausstattung, manch falscher Zahl und vor allem unter den "marktschreierisch" vorgetragenen einseitigen Thesen des Autors zum Revanchismus der Franzosen und zur Rolle des Versailler Vertrags als "Urkatastrophe". Spannende Überlegungen im Buch, wie die zur "wilhelminischen Erpressungspolitik" gegenüber Frankreich, gehen dabei unter, bedauert Krumeich“.2>

„Schmidt schreibt, an der einschlägigen Forschung vorbei, fast wie im deutschnationalen Duktus der 1920er-Jahre. (...) Hier wäre weniger wirklich mehr gewesen, denn ein brauchbares Buch über die behandelte Zeit, geschrieben vom konservativen Standpunkt aus, fehlt eigentlich. Aber so geht es nicht, wirklich nicht.“3>

Langewiesche (Universität Tübingen) geißelte Schmidts Werk, das ein „revisionistisches Bild der europäischen Geschichte“ entwerfe, als „forschungsfern“, „desolat“, „geradezu peinigend“.4>

Schmidt wurde sogar Opfer wüster Schmähungen eines gewissen Robert C. Moore (vermutlich ein Pseudonym) in der überaus angesehenen „Historischen Zeitschrift“ (HZ). Streit unter Historikern ist gut und fruchtbar, solange er sachlich bleibt und befruchtend sein kann, aber das Thema „Erster Weltkrieg und Kriegsschuld“ ist nach wie vor brisant, weil es offenkundig ideologisch besetzt bleibt. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es um die Diskussionskultur an deutschen Hochschulen nicht zum Besten bestellt ist – identitätspolitische Denkmuster und cancel culture scheinen ihre zerstörerische, weil intolerante Wirkung zu entfalten. Verloren scheint die Erkenntnis, dass jede Generation aus ihrem eigenen Sein heraus Geschichte betrachtet und neu bewertet – es wird niemals ein endgültiges Urteil über die Kriegsschuldfrage 1914 geben, aber man sollte sich bemühen, sich in respektvollem Ringen um die historische Wahrheit gegenseitig Impulse zu geben und konträre Positionen zu respektieren – Toleranz ist das Gebot der Stunde.

© Alfons Philippi 14.04.2022, abschließend überarbeitet am 18.06.2022

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siehe hierzu Jörg Echternkamps Aufsatz "Militärgeschichte" ; lehrreich ist vor allem immer noch Rainer Wohlfeils "Wehr-, Kriegs- oder Militärgeschichte" , aber der Klassiker ist und bleibt Clausewitz’ „Vom Kriege“

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So die zusammenfassende Notiz im Kulturmagazin „perlentaucher“ zu Krumeichs Rezension in der FAZ (29.10.2021); https://www.perlentaucher.de

3
Der vollständige Text von Gerd Krumeich findet sich hier

4
Der vollständige Text seiner Rezension (27.09.2021) ist hier zu lesen